Warum du dich ständig entschuldigst – und was das über dein Selbstwertgefühl verraten kann
„Entschuldigung, dass ich störe… Entschuldigung, dass ich nachfrage… Entschuldigung für die Entschuldigung.“ Kommt dir das bekannt vor? In vielen westlichen Kulturen ist häufiges Entschuldigen ein verbreitetes Verhalten – oft aus reiner Höflichkeit. Doch wann wird ein sozialer Reflex zum Hinweis auf ein tieferliegendes Selbstwertproblem?
Psychologen beobachten, dass übermäßiges Entschuldigen mit psychologischen Mustern wie Unsicherheit und geringem Selbstwert zusammenhängt. Die Psychologieprofessorin Dr. Susan Krauss Whitbourne erklärt, dass häufige Entschuldigungen oft nicht mit echter Schuld zusammenhängen, sondern Ausdruck innerer Zweifel sind.
Das Entschuldigungs-Paradox: Zwischen Höflichkeit und Selbstaufgabe
Sich zu entschuldigen ist eine wichtige soziale Kompetenz, die Rücksicht und Verantwortung zeigt. Doch wenn Entschuldigungen zur Standardreaktion werden, können sie mehr schaden als nutzen.
Die Psychologin Dr. Harriet Lerner, bekannt durch ihr Buch „Why Won’t You Apologize?“, unterscheidet zwischen produktiven und destruktiven Entschuldigungen. Eine produktive Entschuldigung ist aufrichtig und angemessen, eine destruktive entsteht aus Angst, Unbehagen oder übertriebener Selbstkritik – und kann das eigene Selbstbild langfristig untergraben.
Psychologische Muster hinter dem ständigen „Sorry“
Viele Menschen entschuldigen sich für Dinge, die keiner Entschuldigung bedürfen. Dahinter stecken oft folgende Muster:
- Überverantwortlichkeit: Das Gefühl, für alles verantwortlich zu sein – sogar für Themen außerhalb der eigenen Kontrolle
- Konfliktscheu: Aus Furcht, andere zu verärgern, wird voreilig Entschuldigung gefordert
- Perfektionismus: Der Anspruch, niemals Fehler zu machen, selbst in unwichtigen Situationen
- Niedriges Selbstwertgefühl: Der Glaube, dass die eigene Meinung oder Anwesenheit für andere eine Belastung darstellt
Eine Untersuchung der Harvard Business School zeigt, dass häufiges Entschuldigen zu einem geringeren Kompetenz- und Selbstbewusstseins-Eindruck führen kann – vor allem im Job, wo Selbstsicherheit zählt.
Typische Alltagssituationen – erkennst du dich wieder?
Job: „Entschuldigung, dass ich störe, aber…“ – obwohl du eine legitime Frage stellst.
Partnerschaft: „Entschuldigung, dass ich emotional reagiere“ – obwohl deine Gefühle berechtigt sind.
Alltag: Du entschuldigst dich beim Kellner für eine Frage zur Speisekarte. Oder bei jemandem, der dir auf den Fuß getreten ist.
Selbstwert, Amygdala & die Macht der inneren Stimme
Dr. Kristin Neff, führende Forscherin für Selbstmitgefühl, beschreibt den Zusammenhang zwischen kritischem innerem Dialog und übermäßigem Entschuldigungsverhalten. Menschen mit niedrigem Selbstwert empfinden sich oft als „zu viel“ – zu laut oder störend – und versuchen sich durch Entschuldigungen kleiner zu machen.
Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass bei Menschen mit geringem Selbstwert das Angstzentrum im Gehirn, die Amygdala, sensibel auf soziale Situationen reagiert, was Schutzverhalten wie Entschuldigungen auslösen kann.
Wie kulturelle Prägung unser Entschuldigungsverhalten beeinflusst
Kommunikationsmuster und Normen variieren kulturell. Studien zeigen, dass in Kulturen mit hoher Höflichkeitskultur, oft ein starkes Bedürfnis nach Entschuldigungen herrscht, wie es teilweise auch in Deutschland der Fall ist.
Wann Entschuldigungen problematisch werden
Entschuldigungen sind nicht per se schlecht, doch als Automatismus können sie auf ein tiefergehendes Problem hinweisen. Beachte folgende Warnsignale:
- Du entschuldigst dich täglich mehrmals für gewöhnliche Dinge
- Du entschuldigst dich vorab, ohne was gesagt oder getan zu haben
- Verzeihung für eigene Meinungen, Gefühle oder Anwesenheit erbitten
- Andere reagieren verwirrt oder irritiert
- Schuldgefühl, wenn du dich mal nicht entschuldigst
Was dein Entschuldigungsverhalten in Beziehungen bewirkt
In der Liebe: Partner empfinden ständige Entschuldigungen als Unsicherheit oder belastend.
Am Arbeitsplatz: Das „Sorry“ kommt als defensiv an; Kollegen und Vorgesetzte nehmen dich als weniger durchsetzungsstark wahr.
Freundschaften: Ständiges Entschuldigen zwingt andere in die beruhigende Rolle; auf Dauer anstrengend und frustrierend.
Der Weg zur Veränderung – mit kleinen Schritten beginnen
Die gute Nachricht: Übermäßiges Entschuldigen ist eine Gewohnheit – und Gewohnheiten lassen sich verändern. Hier einige Strategien:
1. Selbstbeobachtung: Führe ein „Sorry-Tagebuch“. Reflektiere alle Entschuldigungsversuche – auch gedanklich – auf ihre Notwendigkeit.
2. Die Pause-Regel: Überlege vor der Entschuldigung: Habe ich tatsächlich etwas falsch gemacht?
3. „Sorry“ durch „Danke“ ersetzen: Statt „Entschuldigung für die Verspätung“ sage „Danke für deine Geduld“.
4. Selbstbewusste Alternativen üben: Ändere „Tut mir leid, dass ich störe“ in „Ich möchte gern etwas fragen“.
Selbstmitgefühl als Schlüssel zur Veränderung
Dr. Kristin Neff betont: Selbstmitgefühl mildert übertriebene Selbstkritik. Mit einer positiven inneren Haltung brauchen wir weniger Bestätigung von außen und entschuldigen uns seltener.
Übung: Frage dich vor deiner nächsten Entschuldigung: „Würde ich wollen, dass sich mein bester Freund in dieser Situation entschuldigt?“ Die Antwort lautet meist: Nein.
Wann professionelle Unterstützung hilfreich ist
Wenn übermäßiges Entschuldigen dir Probleme bereitet, könnte psychotherapeutische Hilfe sinnvoll sein. Besondere Effektivität zeigt die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT).
- Gedankenprotokolle helfen, Entschuldigungsimpulse zu erkennen
- Verhaltensexperimente fördern selbstbewusste Kommunikation
- Achtsamkeitsübungen stärken das Bewusstsein für die innere Stimme
Höflich, aber klar: Die Balance finden
Entschuldigen ist wichtig – aber nur dann, wenn es passend und ehrlich ist. Höflichkeit bedeutet nicht Unterwerfung. Eine gesunde Entschuldigung ist konkret und fördert sozialen Zusammenhalt. Problematisch wird es, wenn sie übertrieben oder unnötig ist.
Ein Beispiel: „Entschuldigung, dass ich zu spät bin“ ist angemessen. „Tut mir leid, dass ich überhaupt da bin“ ist ein Warnsignal.
Der Weg zu mehr Selbstbewusstsein – ganz ohne Entschuldigung
Sich ständig zu entschuldigen kann darauf hindeuten, dass der innere Kritiker zu laut ist. Doch diesem kann man entgegnen: Mit Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und kleinen Änderungen. Wenn du aufhörst, dich für deine Existenz zu entschuldigen, beginnst du, dir den Raum zu geben, den du verdienst.
Keine Sorge – die Welt bleibt nicht stehen, wenn du heute mal kein „Sorry“ sagst.
Danke, dass du diesen Artikel gelesen hast. Genau das ist es: Wertschätzung statt Rechtfertigung. Spürst du den Unterschied?
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